Ein Text von Kersti Nebelsiek
"Torey, komm zum Ausgang." Als ich diese Worte hörte, lief es
mir kalt den Rücken herunter. Als Siebzehnjähriger war ich noch nie zum Ausgang
gerufen worden, aber ich kannte genug Leute, denen das passiert war. Eigentlich
war es allen schon passiert, die so alt waren wie ich - und nachher fehlte
ihnen irgendetwas. Ein Arm oder ein Bein. Manchmal war es auch von außen nicht
zu sehen, aber sie erzählten mir, daß ihnen der Bauch aufgeschnitten worden war
und etwas herausgeholt worden war. Ich kannte inzwischen die Namen aller
inneren Organe...
Ich bummelte, als ich den Befehl
hörte - aber ich ging. Ich kannte genug Leute, die in dieser Situation versucht
hatten, sich zu verstecken, wegzurennen oder einfach nur nicht zu gehen. Aber
wenn man sich versteckt, müssen sie nicht einmal suchen, und weglaufen geht einfach
nicht. Man wird durch Nervenfolter bewegungsunfähig gemacht und dann kommen sie
direkt zum Versteck und bringen einen weg. Ich kannte niemanden, der nach so
einer Erfahrung, wenn er wieder zum Ausgang gerufen wurde, ein zweites mal zu
fliehen versuchte. Wer jemals geflohen war, ist danach immer widerstandslos zum
Ausgang gegangen. Wenn ich irgendeine Chance gesehen hätte, daß es mir
irgendetwas bringen könnte, hätte ich es versucht und die Nervenfolter in Kauf
genommen, mit der sie einen bestraften und bewegungsunfähig machten, wenn man
nicht gehorchte. Tatsächlich tat ich etwas, was sonst niemand tut. Ich suchte
immer, wenn ich Zeit dazu hatte, nach einem Weg, mit der ich unseren Lebensraum
verlassen konnte. Aber ich hatte noch nichts gefunden. Da hatte ich auch gar
nicht mit gerechnet: Niemand war je entkommen. Ich schob es darauf, daß wir zu
wenig über unseren Lebenraum wußten, um eine Chance zu haben, denn ich glaubte
nicht, daß es unmöglich war, zu fliehen. Und von allen Menschen, von denen ich
wußte, waren die Ärzte die, die wohl am meisten wußten. Ich mußte einen Arzt
kennenlernen, den ich all meine Fragen stellen konnte. Vielleicht würde das
etwas bringen...
Langsam trottete ich zum Ausgang.
Als ich an der Schiebetür ankam, öffnete sie sich für mich und ließ mich in die
Schleuse.
Ich sah mich um. Es sah immer noch
so aus, wie beim letzten mal, als ich hiergewesen war. Damals war ich einfach
einem von denen gefolgt, die gerufen worden waren, denn ich hatte gehört, daß
an den Ärzten noch alles dran war, obwohl sie erwachsen waren. Und ich hatte
daraus geschlossen, daß sie irgendwo leben mußten, wo niemand einem Menschen
Teile abschneidet. Und vielleicht, so hatte ich mir gedacht, konnte ich durch
die Schleuse auch dorthingelangen... Sie hatten mich durch Folter
bewegungsunfähig gemacht und dann kamen sie herein. Der andere wurde abgeholt
und sie brachten ihn nachher ohne Beine zurück. Ich aber wurde einfach wieder
in unseren Lebensraum gebracht. Na ja, ich hatte im Grunde überhaupt nicht
damit gerechnet, daß es etwas bringen könnte. Aber nur indem ich solche Dinge
ausprobierte, die niemand tat, konnte ich hoffen irgendetwas herauszufinden,
das mir helfen würde, zu fliehen. Ich hatte auch ein paar merkwürdige Dinge so
herausgefunden, nur konnte ich mir einfach keinen Reim darauf machen. Gegen die
Dinge, auf die jeder kam, hatten sie sich selbstverständlich abgesichert. Ich
hatte noch mehr solche Dinge getan. Von daher hatte ich weit öfter
Bekanntschaft mit Nervenfolter gemacht, als jeder andere. Aber ich war einfach
nicht bereit, aufzugeben. Nervenfolter macht schließlich nichts kaputt, die
Operationen schon.
Ein einzelner Mann betrat die Schleuse und sagte mir:
"Komm mit."
Ich folgte ihm wortlos. Er führte mich zu dem weißen Zimmer mit einer Liege in
der Mitte, von dem mir schon oft erzählt worden war. Ich sah mich aufmerksam
um, versuchte mir jede Einzelheit des Raumes einzuprägen. Musterte die
Gesichter der weißgekleideten Männer, die hier waren. Das waren die Ärzte. Als
sie mir erzählten, daß ich mich dort drauf legen sollte gehorchte ich
schweigend. Die meisten waren kalt und ausdruckslos. Sie erwiderten meinen
Blick nicht. Doch sie wichen ihm auch nicht aus - sie behandelten mich einfach
wie einen Gegenstand, schnallten mich fest, und unterhielten sich in einer viel
komplizierteren Sprache, als ich gewöhnt war, miteinander. Ich hörte aufmerksam
zu. Verstand aber nahezu nichts.
"Was werdet ihr mit mir
tun?"
"Nichts. Nur eine Untersuchung."
Das wurde häufig erzählt. Daraus, daß Frauen immer erzählt wurde, daß sie nur
ein Baby gemacht bekamen, während Männern dieser Satz gesagt wurde, schloß ich,
daß es eine beruhigende Lüge sein sollte. Aber ich wußte nicht, was "Nur
eine Untersuchung" eigentlich heißt.
Einer der Ärzte berührte mich mit
der Hand und sagte leise:
"Armer Junge."
Ich sah ihn an, prägte mir sein Gesicht und seine Stimme ein. Er war der
einzige, der etwas Freundliches gesagt hatte. Ihn wollte ich kennenlernen.
"Bitte sag mir, was ihr tun wollt." bestand ich auf meiner Bitte.
"Du kannst doch sowieso nichts tun." sagte er leise.
"Ich weiß. Aber ich will es wissen." antwortete ich.
Doch er stellte einfach den
Strahler ein und ich konnte mich nicht mehr bewegen. Ich beobachtete, wie die
Leute ihre Instrumente in die Hand nahmen und mein Gesicht mit einer Salbe
einschmierten. Also war es etwas am Gesicht. Vor meinem inneren Auge liefen so
häßliche Scenen ab, was sie alles tun könnten, Scenen, von denen viele so
abartig waren, daß ich im wirklichen Leben noch nie davon gehört hatte. Aber
sie waren immer in meinen Kopf gewesen, wenn ich über meine Zukunft nachdachte.
Sie zogen mit einer kleinen Zange
meine Augenlieder auseinander und holten mit einer Art Löffel meine Augäpfel
aus der Augenhöhle, ohne sie zu verletzen. Es tat schrecklich weh. Aber ich
konnte keinen Muskel rühren, um mich zu wehren. Danach schnitten sie die
Knochen an den Schläfen weg, um so von der Seite in die Augenhöhlen zu kommen
und griffen mit etwas langen in den Kanal, in dem die Nervenfasern ins Gehirn
führten. Tief im Kopf schnitten sie es ab. Danach taten sie dasselbe auf der
anderen Seite und schließlich spritzten sie ein Heilgel in die leeren
Augenhöhlen und klebten die Haut darüber zusammen. Was sie mit den Augen dann
gemacht haben, weiß ich nicht. Danach stellten sie den Strahler aus und
schnallten mich los. Ich richtete mich auf und schlug dann schweigend die Hände
vor die leeren, schmerzenden Augenhöhlen. Während mein Körper und meine Gefühle
von Schmerz überwältigt waren und leise wimmerten, gab es einen Teil von mir,
der die ganze Angelegenheit ruhig aus einigem Abstand betrachtete, der nicht
verletzt war.
Dieser Teil, mein eigentliches ich,
wußte, daß ich jetzt menschliche Wärme brauchte und wollte sie mir beschaffen.
Ich stand auf, drehte mich zu demjenigen um, der gesagt hatte "armer
Junge" und bat leise:
"Kores - Bitte, nimm mich in die Arme."
Er zog mich in die Arme und streichelte mich, während ich mich nur schweigend
gegen ihn lehnte und versuchte irgendwie mit den Schmerzen und der Aussicht,
für den Rest meines Lebens blind zu sein, fertigzuwerden. Ich war viel zu
angespannt, um zu weinen.
Als ich mich einigermaßen wieder gefangen hatte, spürte ich, daß der
Arzt weinte. Er war der einzige, der bei der Operation eine menschliche Regung
gezeigt hatte. Ich wollte ihm all die Fragen stellen, die ich hatte. Er würde
mir wohl ehrlich antworten.
"Bringst du mich zurück?" fragte ich ihn.
Ich wußte, daß einer der Ärzte mich jetzt zurückbringen würde - und mit ihm
konnte ich vielleicht über das reden, was ich wissen wollte. Von den anderen
hätte ich bestimmt keine Antwort bekommen.
Er führte mich wortlos aus dem
Operationssaal. Erst als wir alleine waren, fragte er mich:
"Willst du denn zurück?"
"Würdest du mich denn woandershin bringen, wenn ich darum bitte?"
fragte ich zurück.
"Nein. Willst du woandershin?" antwortete er.
"Ja. Ich habe gesehen, daß die Leute von draußen alle noch ganz sind, daß
ihnen nichts fehlt. Und ich will wohin, wo mir niemand etwas abschneidet."
erklärte ich.
"Da wirst du nie hinkommen." antwortete er.
"Ich weiß. Aber das ist, was ich will. Was würde denn passieren, wenn du
versuchen würdest, mich woandershin zu bringen?" antwortete ich.
"Es würde mir nicht gelingen. Es gibt so viele Sicherheitsmaßnahmen. Einige
Ärzte haben das schon versucht. Es ist seit hunderten von Jahren niemandem
gelungen." erklärte er.
"Das dachte ich mir. Was sind
das denn für Sicherheitsmaßnahmen?" antwortete ich.
Während wir redeten gelangten wir
in der Schleuse an. Ich fragte ihn, ob er mit in die Kantine kommen würde, wo
wir immer unser essen bekommen. Er als Arzt könne sich dort ja das Essen
bestellen, was er gewohnt sei.
Die Essensausgabe wurde von
dunkelhäutigen Mädchen bedient, die viel kleiner und zierlicher waren als wir und
die Ärzte. Ich hatte einmal als kleiner Junge versucht durch das Fenster zur
Essensausgabe zu kriechen - doch es war ein Alarm losgegangen und sie hatten
mich bestraft und zurück und unseren Lebensraum gebracht.
Leider wußten die kleinen Mädchen auch
nicht viel mehr als wir, außer daß sie nach ein paar Monaten Arbeit dort in die
Versuchslabore kamen - was immer das auch sein mochte - und häßliche Gerüchte
darüber im Umlauf waren, die ihnen panische Angst einjagten. So wie ich die
Welt kannte, hielt ich die Angst für gerechtfertigt.
Die Mädchen in der Kantine
erkannten ihn als Arzt - das war ganz einfach, denn er hatte Kleidung an und
wir alle nicht. Und überschlugen sich beinahe vor Diensteifrigkeit. In
Wirklichkeit aber hatten sie Angst vor den Ärzten.
Er bekam einen Kaffee - ein Getränk
was sehr gut roch - aber mir scheußlich schmeckte, als er mich mal probieren
ließ. Ich fragte ihn, warum er das Zeug trank und er erklärte mir, daß er das
täte, weil es gut schmeckte. Ich fragte mich, wie er zu der
Geschmacksverwirrungen gekommen war. Abgesehen davon, daß wir es ja deshalb
nicht trinken durften, weil es nicht gesund war. Und gegen Regeln, die meiner
Gesundheit dienten, hatte ich nichts einzuwenden.
Die nächsten Stunden war ich voll
auf unser Gespräch konzentriert.
Es war schwierig, ihm zu erklären,
warum wir so reagierten, wie wir reagierten - und doch war es wichtig, um sein
Interesse wachzuhalten und damit er bei der Sache blieb. Und schließlich wollte
ich von ihm ja auch, daß er mir so einiges erklärte.
Seine Erklärungen waren im höchsten
Maße verwirrend, weil ich für die Hälfte der von ihm benutzen Wörter selbst
nach einer ausführlichen Erklärung von ihm noch nicht einmal andeutungsweise
erahnen konnte, was sie bedeuteten.
Was beispielsweise war ein Haus? Er
hatte erklärt, daß ein Haus aus mehreren Zimmern besteht -
"Gut aber ALLES besteht doch aus Zimmern" hatte ich gesagt.
"Ja. Euer Lebensraum ist ja in einem Haus."
"Und - gibt es auch Plätze, wo keine Zimmer sind?" fragte ich.
"Ja. Außerhalb von Häusern gibt es keine Zimmer."
"Und wie sieht das aus, wenn da kein Zimmer ist?" fragte ich.
Seine weiteren Erklärungen stürzten mich in absolute Verwirrung, weil in ihnen
überhaupt nichts vorkam, was es auch in Wirklichkeit gibt. Jedenfalls in der Wirklichkeit,
die ich kannte. Aber ich gab nicht auf. Ich wollte verstehen und ich würde
nicht eher ruhen, als bis ich es verstanden hatte.
Der Arzt Kores war an diesem Tag neu in die Abteilung für
Organtransplation gekommen. Er hätte sich diese Stelle nicht ausgesucht - sie
war ihm zugwiesen worden. So war er der jüngste Assistent bei der Operation und
wurde geschickt, um die Reserve abzuholen.
Als er in die Zugangsschleuse
des Lebensraumes der Reserve trat, wartete die Reserve schon auf ihn. Zuerst
fiel dem Arzt nur auf, daß der junge Mann völlig nackt war. Und es schockierte
ihn, das zu sehen. Dabei hatte er theoretisch natürlich gewußt, daß Reserven
keine Kleidung zugewiesen bekommen, weil das nur unnötige Umstände macht.
Dann erst fiel ihm auf, was für
ein schönes, symphatisches Gesicht der Junge hatte. Dieser aufmerksame und
wache Blick. Der Junge folgte ihm ruhig und gehorsam. Er wirkte, als wüßte er
nicht, was auf ihn zukam.
Das allerdings stellte sich als
Irrtum heraus. Auf dem Weg zum Operationssaal fragte er ganz ruhig:
"Weißt du, was sie mir abschneiden werden?"
Kores war viel zu schockiert von der Beiläufigkeit, mit der diese Frage
gestellt wurde, als daß er hätte antworten können. Er sah den Jungen an, den er
zur Organspende brachte - dieses hübsche, freundliche Gesicht - und hätte
weinen mögen.
Er hatte auch kurz mit dem Mann
gesprochen, der diese schönen braunen Augen bekommen würde. Es war ein
unsympathischer Mensch, durch ein ungesundes Leben dick geworden und obgleich
das Gesicht beinahe genauso aussah, war es doch nicht hübsch sondern durch
Pickel entstellt und durch eine zwischen Gemeinheit und vollkommener
Gleichgültigkeit wechselnden Miene zu etwas geworden, was niemand gerne
anschaut. Auf den jungen Arzt hatte er mit Verachtung herabgeschaut und die
Sklavinnen, die ihn bedienten, gemein behandelt.
Nein. Dieser Junge hatte es
nicht verdient, daß man ihm für dieses unsympathische Arschloch die Augen
wegnahm.
Und doch kam er ganz brav mit,
legte sich gehorsam auf die Behandlungsliege und ließ es zu, daß man den
Lähmstrahler anstellte. Danach war sein Gesicht so leer ausdruckslos, wie es
unter der Wirkung eines Lähmstrahlers immer ist.
Nach der Operation verließen die
anderen Ärzte den Raum. Kores aber würde den Jungen noch zurückbringen müssen.
Als er den Lähmstrahler
ausstellte, verkrampfte sich das Gesicht kurz vor Schmerz. Dann wurde die Miene
wieder ruhig - aber nicht ausdruckslos sondern beherrscht. Es lag eine große
Stärke darin. Der Junge setzte sich beinahe sofort auf und schlug die Hände vor
die leeren Augenhöhlen. Dann hob er das Gesicht mit den beiden häßlichen
Löchern wo einmal die Augen gewesen waren und fragte:
"Nimmst du mich in den Arm?"
Kores wußte nicht, was er erwartet hätte - aber ganz bestimmt nicht diese Bitte
um Zuwendung. Vielleicht Ärger oder ein Weinen. Aber nicht eine so ruhige
Frage. Er nahm den Jungen in den Arm und hatte das Gefühl, daß der Welt etwas
wichtiges verloren ging, wenn dieser innerlich so starke Mensch als
Organspender ausgeschlachtet würde.
Der Junge lehnte sich eine ganze
Weile einfach nur schweigend an den Arzt. Dann irgendwann stand er auf und
seine Haltung drückte Ruhe und Entschlossenheit aus und fragte:
"Bringst du mich zurück?"
Das "du" war so deutlich betont, daß klar war, daß er Wert darauf
legte, von Kores und keinem anderen begleitet zu werden.
Die nächste Überraschung kam in
der Schleuse. Torey fragte, ob Kores ihm noch ein paar Fragen beantworten
könne. Er mußte heftige Schmerzen haben. Wie kam er gerade jetzt auf den
Gedanken einen völlig Fremden ausfragen zu wollen? Kores hatte Zeit und er war
neugierig. Also ging er mit und trank in der Kantine einen Kaffee. Eigentlich
hätte er den Jungen nicht probieren lassen dürfen - so etwas ungesundes durften
sie nicht zu sich nehmen - allerdings konnte Kores sich auch nicht vorstellen,
wie es möglich sein sollte, daß ein Schluck Kaffee irgendeinen merklichen
Schaden anrichtet.
Der Junge war unglaublich
unwissend. Und doch zeigte die Art wie er Fragen stellte, daß er intelligent
war, genau beobachtete und in seinem Leben viel nachgedacht hatte. Und seine
Schlußfolgerungen waren, wenn man bedachte, wie wenig er über die Welt wußte,
erstaunlich zutreffend. Er kam mit beinahe schlafwandlerischer Sicherheit bei
der Wahrheit an.
Als er am Ende bat, daß Kores ihn
noch öfter besuchen sollte, versprach Kores ihm das gerne. Ihm war selten ein
so interessanter Mensch begegnet.
Als er Abends ging und ich mich in den Schlafsälen schlafen legte, kam
mir das ganze Elend wieder zu Bewußtsein und ich weinte mich in den Schlaf.
Am nächsten Morgen, als ich
aufwachte, spürte ich, wie mich jemand streichelte. Ich wollte die Augen
aufmachen und ihn anschauen, doch es ging nicht. Dann ergriff ich die
streichelnde Hand und als ich bemerkte, daß ein Finger fehlte, wußte ich, wer
es war.
"Odin?" sagte ich und setzte mich auf.
Er war einer der Führer unseres
Fürsorgekreises. Es ist so, daß die Ärzte sich nicht interessieren, wie wir uns
fühlen und auch niemand sonst. Das einzige, was sie interessiert ist, daß wir
unseren Körper gesunderhalten, von dem sie immer wieder Teile abschneiden. Wenn
wir uns nicht genug bewegen werden wir bestraft, wenn wir nicht genug essen,
werden wir bestraft. Aber ob wir glücklich oder totunglücklich sind, interessiert
niemanden von ihnen. Und es interessiert sie beispielsweise auch nicht, ob
jemand richtig essen kann oder weil er keine Arme mehr hat, die Schüssel
auslecken muß. Nur wer absolut nicht mehr selbständig essen kann -
beispielsweise, weil ihm der Darm herausgenommen wurde wie Jedith - kommt an
den Tropf.
Deshalb haben wir beschlossen, daß
wir uns um all die kümmern wollten, die traurig waren oder Hilfe brauchten.
Ich stand auf und fragte Odin:
"Kannst du mich zu Darith begleiten?"
Ich spürte, wie erstaunt er war.
"Aber ich dachte, du würdest erst einmal traurig sein und nichts tun
wollen und über die Ärzte schimpfen."
"Und - was würde das bringen?" fragte ich zurück.
"Alle tun das."
"Heiße ich alle?" fragte ich bissig.
Dann ging ich alleine los. Der
Lebensraum war nicht sehr groß - und allein, weil ich nicht bereit war, auch
nur für einen Augenblick zu glauben, daß ich es nicht finden könnte, fand ich
es auch sofort. Schließlich wußte ich ja, wie groß jeder Raum war. Es gab
andere Blinde hier und die meisten waren, nachdem man ihnen die Augen
herausgeschnitten hatte, erst einmal lange Zeit orietierungslos gewesen. Und
dann plötzlich hatten sie begriffen, daß sie eigentlich jeden Raum kannten und
jederzeit finden konnten. Ich hatte daraus geschlossen, daß man eigentlich
überhaupt nicht orientierungslos sein muß, daß man nur darauf vertrauen muß,
daß man sich auskennt und dann findet man auch alles.
Im Raum der Bewegungsunfähigen
blieb ich stehen und fragte laut in den Raum:
"Darith?"
Als er mir antwortete richtete ich mich nach seiner Stimme und ging direkt zu
seinem Bett. Die anderen hätten es sicher nicht sehr freundlich gefunden, wenn
ich zuerst drei oder vier Gesichter abgetastet hätte, ehe ich den fand, den ich
suchte. Und bei der Größe des Raumes wäre mir das sicher passiert. Ich war
bisher bei den meisten Türen ein Stückchen daneben gelandet und erst nachden
ich ein paar Meter Wand abgetastet hatte, hatte ich sie gefunden.
Ich setzte mich auf die Bettkante,
nachdem ich mich versichert hatte, daß er nicht gerade dort lag und begrüßte
ihn.
"Ich dachte du kommst nicht. Sie haben gesagt, daß sie dir die Augen
herausgeschnitten haben." sagte Darith.
"Das stimmt. Aber du wartest doch auf mich. Da kann ich dich doch nicht
alleine lassen." sagte ich.
"Dunis hat es aber getan, als sie ihm ein Bein abgeschnitten haben."
sagte Darith.
"Bin ich Dunis?" fragte ich.
"Ich kann ihn verstehen. Ich habe ja auch nur noch an mich gedacht, als
sie mir das halbe Gesicht mit dem einen Auge abgeschnitten haben und meinen
rechten Arm und das Bein." sagte er.
"Ich kann ihn auch verstehen, aber es wäre einfach dumm, wenn ich jetzt an
die Augen denken würde - dann würde ich erst richtig merken, wie sehr das weh
tut. Gestern Abend beim Einschlafen hatte ich nichts anderes zu denken, das war
einfach schrecklich. Das brauche ich nicht den ganzen Tag. Also habe ich mir
gesagt, daß ich tue, was ich bisher getan habe - und irgendwie wird es dann
gehen." erklärte ich.
Dunis hatte sich inzwischen Gott
sei Dank wieder gefangen und kümmerte sich wieder um diejenigen, die schlechter
dran waren als er. Immerhin war er mit dem einen Bein noch wesentlich besser
dran als die meisten. Wir hatten ihn zu Teja geschickt, die zwei Betten weiter
hier liegt - Teja ist schon seit über zehn Jahren bettlägerig. Doch wenn wir
jemanden haben, der nicht weiß wohin mit seiner Verzweiflung, schicken wir ihn
mit irgendeinem kleinen Auftrag zu Teja - und Teja bringt ihn dazu das Leben zu
lieben. Na ja - zu manchen muß man auch hingehen, weil sie selber bettlägerig
sind und um die kümmern sich dann andere. Aber Teja ist gut. Sie hat immer gute
Laune. Dabei geht es kaum einem schlechter als ihr.
Kores mußte immer wieder bei
Operationen an den Reserven assistieren. Und es war einfach nur schrecklich.
Keiner der anderen hatte diese innere Stärke und Ruhe, die Torey gehabt hatte.
Sie alle sprachen ähnlich wie er mit einfachen Worten, in einer Sprache in der
medizinische Fachausdrücke mit Babysprache gemischt war. Sie alle hatten einen
sehr geringen Wortschatz. Doch alle anderen behandelten Kores abweisend.
Niemand war so tapfer wie Torey, hatte diese wache Neugier. Alle weinten oder
wimmerten, wenn man den Strahler ausstellte. Kores erlebte, daß man ihn
anflehte, obwohl er die Operationen ja nicht verhindern konnte. Er erlebte wie
einige im letzte Augenblick in Panik gerieten und wegrannten. Die meisten aber
ließen nur den Kopf hängen und taten widerstandslos was man ihnen sagte und
nachher wimmerten sie wegen der unglaublichen Schmerzen, die man ihnen ohne
jede Betäubung zumutete. Keiner von den anderen stellte Fragen. Nur Torey
fragte ihm Löcher in den Bauch.
Schritte von Menschen mit Schuhen näherten sich und schoben eines der
Rollbetten weg.
"Ärzte." sagte Darith.
"Wen haben sie geholt?" fragte ich.
"Teja."
"Oh nein, nicht sie!" sagte ich, schlug die Hände vors Gesicht und
weinte.
Teja war meine Mutter. Das Wort
Vater kannte ich nicht, denn es hatte bei uns keine Bedeutung. Frauen bekamen
Kinder, weil die Ärzte ihnen ein Kind machten.
Sie wurde nicht wieder
zurückgebracht. So etwas kam öfter vor. Ich glaubte, daß sie deshalb nicht
zurückgebracht wurde, weil die Ärzte so viel abgeschnitten hatten, daß nichts
mehr von ihr übriggeblieben war.
Der Arzt, mit dem ich mich so lange unterhalten hatte, besuchte mich
noch öfters. Auf meine Fragen hin erklärte er mir, daß es für jeden von uns ein
Original gab, für den wir als Ersatzteillager dienten. Jemand, der genauso
aussah wie wir, aber draußen lebte und alles noch hatte. Und wenn er krank
wurde, sich verletzte oder so, dann wurden einem von uns das entsprechende Teil
abgeschnitten und bei ihm festgeklebt.
"Hast du denn auch so einen
wie mich?" fragte ich.
"Nein. Das haben nur ganz wenige, die ganz Reichen."
"Ist es denn draußen so gefährlich, daß man sich so oft verletzen oder
krank werden muß? Keiner von uns ist noch heil, wenn wir erwachsen sind."
fragte ich.
"Nein. Nicht wirklich. Menschen wie ich werden ja auch meist gesund
erwachsen." antwortete er.
"Aber warum geht es dann den Reichen anders? Ist ihr Leben
gefährlicher?" fragte ich.
"Nein. Nicht wirklich. Sie haben nur ziemlich gefährliche
Vergnügungen." erklärte er.
"Was sind Vergnügungen?"
"Sachen, die man nur macht, weil man sie gern macht."
Ich starrte den Arzt fassungslos an. Konnte es wirklich Menschen geben, denen
es egal war, wenn für ihren Spaß Menschen nach und nach in Einzelteile zerlegt
werden? Danach redete ich nur noch über unwesentliche Dinge. Das mußte ich erst
verdauen.
Einige Tage später bei seinem nächsten
Besuch fragte ich:
"Was ist mein Original für ein Mensch?"
"Ich weiß es nicht."
"Kannst Du es herausfinden?"
"Ich kann seine Akte raussuchen und nachschauen."
"Bitte. Ich will das wissen."
Als er mir die Akte vorlas, dauerte
es ziemlich lange, weil er mir beinahe jedes Wort erklären mußte, damit ich
verstand, wovon die Rede war. Doch je mehr ich verstand, desto unglaublicher
erschien es mir. Warum beispielsweise würde jemand freiwillig von einem Haus
runterspringen, das vier mal so hoch ist wie ein Zimmer? Das konnte der Arzt
auch nicht verstehen - doch mein Original hat solche Dinge getan und sie
Vergnügen genannt. Erblindet war er zwei mal, weil er lauter ungesunde Sachen
getrunken hat und davor hat er schon eine Niere bekommen.
"Mir hat niemand eine Niere herausgenommen, das wüßte ich. Von wem
ist sie dann genommen worden?"
"Es gibt noch einen zweiten für ihn. Bei seiner Geburt war der echte Torey
so schwer beschädigt durch die Sauferei seiner Mutter, daß er damals schon
Arme, Beine, Und mehrere innere Organe bekommen hat. Deshalb entschlossen sie
sich, eine zweite Reserve für ihn Klonen zu lassen." erklärte er.
Was Klonen ist, wußte ich. Das ist, wenn die Ärzte einer Frau ein Baby machen.
"Und wer ist das?" fragte ich.
"Er heißt auch Torey."
Torey - jetzt wußte ich, wer es war. Der zweite Torey hing den ganzen Tag an
diversen komplizierten Maschinen, denn außer Armen und Beinen hatten sie ihm
auch den Magen, beide Nieren, beide Augen, das Herz, Zunge und Kehlkopf
herausgenommen. Da er immer noch brauchbare Organe hatte, wurde er noch am
Leben erhalten.
"Es ist einfach nur
falsch." sagte Torey, als Kores ihm erklärte, wofür seine Augen gebraucht
wurden.
Der Arzt war überrascht. Die anderen Gespräche, die sie schon geführt hatten,
hatten ihm gezeigt, daß Kores keines der Worte kannte, die man üblicherweise
verwendet, um Moralvorstellungen, gut und böse zu beschreiben. Er schien auch
nicht wütend oder verbittert zu sein, über das, was man ihm antat. Er nahm es
einfach als selbstverständlichen Teil seines Lebens hin.
"Es ist einfach nur falsch. Er weiß ja nicht einmal, was er tut, wenn er
seinen Körper so kaputtmacht. Wenn er etwas zerstört, dann muß er sich keine
Gedanken machen - er hat ja einen Ersatzkörper... wenn man mal davon absieht,
daß es eigentlich MEIN Körper ist. Also macht er ganz viel kaputt - und ich muß
die Folgen tragen. Es ist einfach nur falsch. Es macht Menschen schlecht, weil
sie lernen, nicht über andere Menschen nachzudenken."
Erklärte er seine Worte genauer. Dieser Mensch hatte nicht nur
Moralvorstellungen... Er wußte auch, welche Auswirkungen auf die Gesellschaft
es hatte, wenn man nicht danach handelte. Kores wunderte sich einmal mehr über
diese starke, ausgeprägte Persönlichkeit, über diese Weisheit.
Zielstrebig ging ich zu dem Bett
des anderen Torey, legte meine Hand unter seinen Nacken - er konnte noch nicken
und mit dem Kopf schütteln und das war seine einzige Verständigungsmöglichkeit.
Und so konnte ich seine Antworten verstehen, obwohl ich es nicht sehen konnte.
Ihm erzählte ich stark vereinfacht was ich erfahren hatte und daß er genauso
geworden wäre wie ich, wenn sie ihm nicht alles abgeschnitten hätten. Torey
hörte zu und deutete mehrfach an, daß er eine Frage hätte. Es dauerte einige
Zeit, bis ich herausgefunden hatte, was er wissen wollte und dann beantwortete
ich seine Frage, indem ich mein Aussehen beschrieb.
"Torey, du mußt jetzt in den Operationssaal." sagte der Arzt
plötzlich mitten in einem Gespräch.
"Hast du das die ganze Zeit gewußt?" fragte ich zurück.
"Ja."
"Dann hättest du es mir sofort sagen sollen. Sonst habe ich irgendwann
jedesmal wenn du mit mir redest die ganze Zeit Angst, daß du mich zur Operation
abholen willst." erklärte ich und ließ mich dann widerstandslos abführen.
Schließlich fragte ich:
"Was werden sie mir denn diesmal abschneiden?"
"Ein Arm, ein Bein, die Hoden und einen erheblichen Teil deiner
Haut." antwortete er.
Ich erstarrte bei dieser Vorstellung mitten in der Bewegung.
"Torey?"
"Ja, ja, ich gehe ja schon weiter." sagte ich.
"Torey." Seine Stimme klang sehr liebvoll.
Erst bei dieser zweiten Wiederholung wurde mir klar, daß er meinen Namen nicht
gesagt hatte, um mich zu ermahnen. Er liebte mich, machte sich Sorgen um mich
und konnte diese Vorstellung selbst kaum ertragen. Oft wenn er mich besucht
hatte, hatte er mir von anderen Operationen erzählt. Ich hatte schweigend
zugehört. Es war schrecklich für ihn, so machtlos zu sein - es nicht verhindern
zu können und dann auch noch den anderen Ärzten bei diesen Operationen zur Hand
gehen zu müssen, bei mir redete er sich das alles von der Seele. Ich tröstete
ihn dann immer. Ich sagte ihm wer weiß wie oft, daß ich ihn trotz allem liebte.
Und ich sagte jedesmal, daß ich mich an seiner Stelle weigern würde, den
Anderen zur Hand zu gehen. "Lieber will ich hier leben und nach und nach
wird mir alles abgeschnitten, als selber an so etwas schuld zu sein."
sagte ich jedesmal. Ich meinte das ernst.
Diesmal aber blieb ich nach ein
paar weiteren Schritten erneut stehen, weil mir ein weiterer Gedanke kam:
"Kores - denk daran - ich werde dich immer lieben, ganz gleich was
geschieht."
Ich ging langsam weiter. Leider kannte ich keine Möglichkeit dieser Operation
zu entkommen. Und wie die erste wurde sie bei vollem Bewußtsein vorgenommen.
Wie soll ich beschreiben, wie es
ist, operiert zu werden? Zuerst einmal liegt man auf der Behandlungsliege und
wenn man meint, seine Hand zu bewegen, geschieht einfach nichts.
Und dann kommen sie, nehmen ein
Messer nehmen nähern sich dem Gesicht. Sie beginnen hinter den Ohren, dort wo
die Muskeln ansetzen, die das Ohr bewegen und schneiden das Ohr samt Innenohr,
Haut und Wangenmuskeln ab, auch ein Teil des Haars und die Muskulatur der
rechten Halsseite. Teilweise.
Dann gehen sie an den Arm und
beginnen zu schneiden. Nicht einfach so, sondern sorfältig beachten sie wo
Falten in der Haut sind, wo bestimmte Muskeln ansetzen, halten sich von jeder
größeren Ader fern, bis sie den Arm fast vollständig abgeschnitten haben - bis
eben auf die Adern, die ihn immer noch mit dem Rest des Körpers verbinden. Und
jeder dieser sorgfältig und konzentriert ausgeführten Schnitte tut weh und man
kann nicht einmal zurückzucken oder weinen vor Schmerz. Es tut einfach nur weh
und man kann nichts tun. Man hat das Gefühl, doch etwas tun zu müssen...
aufspringen vielleicht, wegrennen, weinen, angreifen, um Gnade flehen,
schimpfen, Zähne zusammenbeißen, ganz egal was, aber etwas tun, doch es geht
nicht. Man kann nur zusehen und dann ist der Arm ab, die Adern abgeklemmt. Er
wird durch ein Fenster in den Nachbarraum gereicht, in dem er dem Original
angenäht wird. Von den Schultern her wird Haut über das rohe Fleisch gezogen
und dort angeheilt.
Dann gehen sie an den Bereich der
Brust und ziehen dort Haut und Muskeln von den Rippen herunter und reichen sie
durch das Fenster hinaus. Und ich liege da und kann nicht einmal schreien vor
Schmerzen. Die Haut von der anderen Seite meines Körpers wird ebenfalls
abgelöst und dann so weit gedehnt daß sie die von Muskeln befreiten Rippen
völlig bedeckt. Dann wird sie so angeheilt. Das sind noch mehr Schmerzen, die
mir diesmal aber zugefügt werden, damit ich die Operation möglichst unbeschadet
überlebe ... wenn man so etwas unbeschadet nennen kann.
Aus dem Bauchraum nehmen sie den
absteigenden Dickdarm, die Milz, die linke Niere, sowie Bauchfell, Haut und
Muskeln, die diese Organe bedecken. Danach wird der Rest des Darmes nach außen
gelegt, so daß ein künstlicher Darmausgang entsteht. Bauchfell, Muskeln und Haut
werden Schicht für Schicht zusammengenäht, aber es ist viel zu eng dort unten.
Alles tut weh.
Danach arbeiten sie am Bein weiter.
Lösen Haut und Muskeln Schicht für Schicht, von meinem Körper, schneiden die
Gelenkkapsel auf, klemmen ganz zum Schluß die Schlagadern ab und schneiden sie
durch. Mein Bein wird durch das Fenster hinausgereicht. Und ich sehe ihm
hilflos mit einem Gefühl des schrecklichen Verlusts nach.
Schließlich gehen sie an meinen
Hoden und Penis - und ich habe in diesem Augenblick das Gefühl absolut nichts
mehr verkraften zu können. Ich will einfach nur sterben - oder wenigstens die
Besinnung verlieren - aber nicht einmal das kann ich. Also muß ich auch diese
Schmerzen bei vollem Bewußtsein miterleben. Sie schneiden ein Loch, wo Hoden
und Penis angewachsen sind und holen auch die Prostata mit heraus. Dann wird
der kurze Rest der Harnröhre langgezogen und mit der über die Wunde gezogenen
Haut zusammengeheilt.
Nachher werde ich mit der Behandlungsliege in die Bettlägerigenabteilung
geschoben. Ich erhalte Infusionen mit Salzwasser und Nahrungsmitteln. Das
Gerät, das verhindert hat, daß ich die Besinnung verliere, bleibt weiterhin
angestellt, bis sich der Zustand meines Körpers nach drei Wochen so weit
stabilisiert hat, daß ich nicht mehr ohne weiteres sterben kann. Das hat die
Folge, daß ich mich in dieser Zeit nicht rühren und nicht einmal schlafen kann,
sondern immer wach bin und die Schmerzen ständig bewußt fühlen muß. In der Zeit
wollte ich einfach nur weg und keine Schmerzen mehr haben, aber ich konnte
nicht. Und ich war so müde die ganze Zeit und Schlaf war völlig unmöglich.
Einige Mitglieder unseres
Fürsorgekreises wechselten sich darin ab, an meinem Bett Wache zu halten und
mich zu streicheln. Sie sagten nichts, waren nur für mich da. Mir war ihre Nähe
angenehm, doch ich konnte nicht einmal mit ihnen reden. Auch der Arzt kam mich
immer wieder besuchen, wurde aber von den anderen feindselig behandelt.
Kores versuchte Torey jeden Tag
am Bett zu besuchen. Es ließ sich nicht immer mit seinem Dienstplan
vereinbaren. Und es war schwierig mit der Feindseligkeit der anderen Reserven
umzugehen, die ihn haßten, weil er zu den Ärzten gehörte, die Torey operiert
hatten.
Und Kores konnte diesen Haß
verstehen und begann beinahe sich selbst zu hassen - aber er hatte einfach
nicht gewußt, was er hätte tun sollen.
Sicher - Torey hatte immer
wieder gesagt, er an Kores Stelle hätte sich geweigert bei den Operationen zu
helfen. Nur hätte das nichts geändert - Ärzte, die bereit waren, solche Operationen
zu machen gab es genug - und Torey wäre so oder so operiert worden.
In der Zeit, als Torey sich
nicht rühren konnte, weil der Lähmstrahler immer noch in Betrieb war, merkte
Kores erst, wieviel dieser Mensch ihm bedeutete. Er hatte das Gefühl, die ganze
Welt wäre bedeutungslos geworden ohne ihn.
Und er fragte sich, wie Torey
dazu gekommen war ihm zu sagen, daß er ihn immer lieben würde, ganz gleich was
geschieht. Vor der Operation, in dem Wissen, daß er fürchterlich verstümmelt
werden würde. Wieviel Liebe gehörte dazu, so etwas zu sagen, obwohl er selbst
so viele Probleme hatte, wie sie wohl niemand seinem schlimmsten Feind wünschen
würde? Und dieses Lächeln, mit dem er das gesagt hatte.
Kores fragte sich, wie er diese
Wochen hätte überstehen sollen, wenn er nicht ständig dieses liebe Lächeln vor
Augen gehabt hätte.
Immerhin hatte sein ständiges
treues Kommen nach und nach die Wirkung, daß Toreys Freunde unter den Reserven
ihn akzeptierten - und gegen Ende der drei Wochen sogar gelegentlich um Hilfe
bei irgendwelchen Handreichungen baten.
Nach diesen drei Wochen wurde das Gerät ausgestellt und ich schlief
endlich ein.<P< Arzt.
"Torey? Du bist wach?"
sagte er leise.
"Wie lange habe ich geschlafen, nachdem sie das Ding ausgestellt
haben?" fragte ich.
Sprechen war schwierig, denn dadurch daß die Muskeln der rechten Wange fehlten,
war es schwierig die Worte richtig zu artikulieren.
"Eine Woche." antwortete er.
"Ich habe Hunger. Kannst du mir etwas zu essen holen?" fragte ich.
"Sofort." antwortete er und ging.
Ich zog die Infusionsnadel mit den
Zähnen aus dem Arm und tastete dann die Seite des Körpers ab, die sie operiert
hatten. Dort fühlte sich nahezu nichts mehr normal an. Haare fehlten, wo mein
Ohr gewesen war, war nur noch ein tiefes Loch. Arm und Schulter waren ab, die
Rippen fühlten sich durch die dünne Haut an, als wäre ich fast verhungert, der
Herzschlag dagegen war zu stark zu spüren. Dann kam ein tiefes Loch wo einmal
die herausgeschnittenen inneren Organe gewesen waren. Es reichte fast bis zur
Mitte des Körpers. Und wo das Bein angewachsen war, war nur noch der
Hüftknochen und eine hautüberzogene Gelenkpfanne, ohne jedes Fleisch, nur Haut
und Knochen. Fast die Hälfte meines Körpers fehlte mir. Eigentlich hatte ich es
ja längst gewußt. Und doch machte es mich sehr traurig.
Dann überlegte ich, ob ich mich
setzen konnte, obwohl ich nur noch ein Bein hatte. Ja es ging - wenn ich den
rechten Fuß dahin tat, wo normalerweise die linke Pobacke gewesen wäre, dann
könnte ich sitzen. Ich probierte es aus und war erschreckt, wie schwach ich
mich fühlte. Ich kippte sofort wieder um und versuchte es ein zweites mal,
diesmal vorsichtiger. Es gelang mir sitzenzubleiben, wenn auch nur mit Mühe.
Von diesen wenigen Bewegungen war ich klatschnaß geschwitzt.
Schritte näherten sich und Odin
fragte:
"Torey, was machst du?"
"Ich setze mich hin. Nimmst du mich in den Arm?"
Odin setzte sich neben mich und nahm mich in den Arm. Immer noch war er
abgesehen von einem Finger seiner Hand unversehrt. Ich lehnte mich mit meiner
operierten Seite an ihn und er legte mir den Arm um die Schultern.
"Wo ist der Arzt? Er hat versprochen, daß er bei dir bleibt, bis ich
wiederkomme." fragte Odin.
"Ich habe ihn Essen holen geschickt." antwortete ich.
"Essen holen? Du hast es aber eilig."
"Ich muß doch Darith besuchen. Er vermißt mich bestimmt
fürchterlich."
"Das tut er. Er hat oft nach dir gefragt und hätte dich gerne besucht.
Aber er weiß auch, daß du jetzt wirklich nicht zu ihm kommen kannst."
antwortete Odin.
"Ich will ihn aber besuchen." sagte ich störrisch.
"Warte noch ein paar Tage. Jetzt bist Du noch zu schwach."
widersprach Odin.
Ich schaute auf, als ich die vertrauten Schritte des Arztes hörte. Aufschauen
ist natürlich ein komisches Wort, wenn man nichts mehr sieht.
"Kores?" fragte ich.
"Ja. Es gibt Suppe. Soll ich dich füttern?" antwortete er.
"Nein. Halte nur den Teller fest. Meinen Mund finde ich noch selbst."
Die ersten Löffel aß ich tatsächlich selbst, doch bald war ich so müde, daß ich
nicht einmal mehr den Löffel halten konnte. Und am Ende fütterte Kores mich
doch und ich schlief wieder ein, bevor ich die Suppe auf hatte.
Später sagten sie mir, daß ich drei
Tage geschlafen hatte und als ich aufwachte, hing ich wieder am Tropf. Einer
der Anderen war gerade dabei, den Beutel am künstlichen Darmausgang zu
wechseln. Also wartete ich ab, bis er fertig war. Danach fragte ich nach etwas
zu essen und zog die Nadel wieder heraus. Ein Mädchen antwortete mir und brache
nach einer kurzen Verzögerung Suppe ans Bett. Diesmal funktionierte es mit dem
Hinsetzen schon besser und es gelang mir, die Suppe ohne Hilfe zu essen. Doch
danach war ich wieder so totmüde, daß ich sofort einschlief.
Als ich das nächste mal aufwachte
hatten sie es nicht für nötig gehalten, mich erneut an den Tropf zu hängen.
Zwei Tage später bleibe ich endlich lange genug wach, um mein Vorhaben, Darith
zu besuchen, tatsächlich umzusetzen. Odin stützte mich, während ich mit
mehreren Pausen auf einem Bein dorthinhüpfe, dann lasse ich mich erschöpft auf
das Bett sinken, in dem er liegt.
"Torey, du bist wirklich gekommen?" fragte Darith erstaunt.
"Ja. Warum hätte ich nicht kommen sollen?" fragte ich.
"Niemand steht so schnell auf, wenn ihm so viel abgeschnitten wurde."
sagte Darith.
Ich brauchte nur in mich hineinzuhorchen, um ganz genau zu wissen, warum
niemand so schnell wieder auf die Beine kam. Aber das hieße, mir all der
Schmerzen und all der Hoffnungslosigkeit wieder bewußt zu werden - genau das
war ja der Grund, warum ich so schnell wie möglich hatte aufstehen wollen. Wenn
ich mich um die Probleme der anderen kümmere, habe ich keine Zeit, an meinen
eigenen Problemen zu verzweifeln.
"Das stimmt nicht. Ich bin aufgestanden." widersprach ich.
Ich kam wieder einigermaßen auf die
Beine - na ja, ich hatte ja nur noch eins, aber auf dem hüpfte ich kreuz und
quer durch den Lebensraum und kümmerte mich um andere.
Kores nahm mit Erleichterung zur
Kenntnis, daß Torey sich durch die Verletzungen, die ihm zugefügt worden waren,
überhaupt nicht verändert zu haben schien. Er legte eine bewundernswerte
Energie an den Tag, um ins Leben zurückzukehren. Kores hatte gefürchtet, daß
auch Torey sich selbst aufgeben könnte, wie so viele der Reserven es nach der zweiten
bis dritten Operation taten. Danach mußten sie dann oft selbst zum Essen
gezwungen werden.
Aus den Unterlagen wußte Kores,
das solche Fälle in den letzten zwanzig Jahren seltener geworden waren und er hegte
den Verdacht, daß es auf Toreys Fürsorgekreis zurückzuführen war.
Kores wußte, daß manche Menschen
glaubten, daß Menschen immer wieder in unterschiedlichen Körpern zur Welt
kommen. Er fragte sich jetzt langsam, ob es das wirklich gab, ob Torey extra
hier zur Welt gekommen war, weil er die Situation hier ändern wollte. Und wenn,
hatte er bewundernswert viel geschafft - wenn man bedachte, daß er eigentlich
gar keine Macht hatte.
Nach einer Woche wurde ich schließlich wieder in den Operationsraum
geführt. Kores war diesmal nicht da, da er bei der Operation am Original
assistieren mußte.
Ich lag auf der Behandlungsliege,
der Lähmstrahler war längst an und hatte panische Angst. Ich suchte etwas, auf
das ich mich konzentrieren konnte, um mich von der kommenden Operation
abzulenken, doch das wollte mir nicht gelingen. Statt dessen tat mir plötzlich
alles, was sie mir schon abgeschnitten hatten doppelt so schlimm weh wie sonst.
Ich hatte rasende Angst, versuchte um mich zu schlagen, wegzurennen... Es
gelang mir nicht, die Panik unter Kontrolle zu bekommen. Dann setzten sie mir
eine Maske auf das Gesicht, durch die die Lunge aufgeblasen wurde, damit die
Lungenflügel während der Operation nicht zusammenfielen. Dann begann die
Operation und alles wurde nur noch schlimmer.
Während der Operation wurde der
Brustkorb aufgeschnitten, 3 Rippen über dem Herzen herausgeholt und
hinausgereicht. Das Herz und ein Lungenflügel entfernt. Irgendwann gegen Ende
gelang es mir endlich, mch wieder zu fangen, meine Angst unter Kontrolle zu
bekommen, die Schmerzen als etwas zu akzeptieren, was ich nicht ändern konnte.
Über eine Stunde, nachdem sie fertig waren, wurde ich in den Bettlägerigenraum
geschoben. Wieder ließen sie die Lähmstrahler tagelang an, bis schließlich der
Körper so weit stabilisiert war, daß ich ihn nicht mehr so ohne weiteres
sterben konnte.
Dann schließlich kam Kores. Er
stellte die Lähmung aus - und ich begann zu weinen - aus Erschöpfung und
Schmerz. Ich erzählte ihm, daß ich die Beherrschung verloren hatte und während
der Operation völlig in Panik geraten war.
"Ich glaube, das geht den meisten so." sagte er.
"Ich weiß. Aber ich dachte, ich wäre stärker."
"Du bist innerlich stärker als die meisten Menschen."
"Ja. Aber nicht so stark, wie ich dachte."
Kores, mein Arzt kam mich immer noch regelmäßig besuchen. Doch inzwischen ist
mir klar, daß ich selbst wenn ich wie durch ein Wunder raus käme, dort doch
keine Chance mehr auf ein besseres Leben hätte. Dazu war ich zu krank. Und
dennoch freute ich mich jedesmal wenn er kam und von der Welt draußen erzählte,
die so seltsam und rätselhaft war.
Den kleinen Torey habe ich nach der
Operation nie wiedergesehen. Kores erzählte, daß er jetzt bei dem Original
leben würde. Zehn Jahre vergingen.
Eines Tages kam Kores wieder zu mir und sagte:
"Torey, du mußt zur Operation."
"Was machen sie diesmal?"
Kores schwieg bedrückt. Ich frage noch zwei mal nach, dann sagte ich:
"Diesmal komme ich nicht zurück, weil sie mir so viel abschneiden, daß
nichts übrigbleibt, oder?"
"Warum glaubst du das?"
"Das ist nur logisch. Jedemal, wenn sie einen holen, dann schneiden sie
ein Stück ab und bringen den Rest zurück. Und wenn sie ihn nicht mehr
zurückbringen, dann ist nichts mehr übrig." sagte ich.
"Wenn sie ihn nicht mehr zurückbringen, ist er bei der Operation
gestorben." korrigierte Kores.
"Was heißt gestorben?" fragte ich.
"Ja - tot."
"Was ist tot?"
"Na tot eben - sag mal weißt du nicht, was tot ist?" fragte er
fassungslos.
"Nein. Kann man wirklich irgendwann weggehen und keine Schmerzen mehr
haben und das Kaputtgeschnittene bleibt dann einfach liegen?" fragte ich.
Kores antwortete nicht. Diese Frage fand er zu verblüffend. Er schob mein Bett
nur schweigend zum Operationssaal. Schließlich sagte er dort angekommen.
"Ja. Nein. Ich weiß nicht. Du wirst es bald wissen..."
Auf meine weiteren Fragen hin erklärte er mir genau, was für eine Operation
geplant ist. Der Original-Torey bekommt meine Wirbelsäule, die Lunge und den
Brustkorb, denn sein Oberkörper ist durch einen Unfall völlig zerschmettert,
sein Herz, das eigentlich meines ist, ist noch zu retten. Dazu bekommt er
Muskeln - teils von mir teils von dem älteren Reserve-Torey und der ältere
Reserve-Torey bekommt dann von mir alles, was noch übrig ist. Das heißt er hat
dann zum ersten mal seit seiner Geburt wieder einen Arm - und vielleicht kann
er sprechen lernen mit den Teilen, die er von meinem Kopf bekommt.
"Diesmal war es kein
Leichtsinn. Er hat drei einfachen Arbeitern das Leben gerettet und es wären sicher
noch viele verletzt worden, wenn er nicht das getan hätte, wobei er so verletzt
wurde." erklärte mir Kores.
Darüber freute ich mich, denn der Original-Torey, den ich kennengelernt hatte,
dem wäre es völlig egal gewesen, was aus einfachen Arbeitern wird. Früher hat
er mal welche zu seinem Vergnügen erschossen. Und der kleine Torey ist gesund
und wird zu seinem Nachfolger erzogen.
Die Operation war wieder mal eine
grausame Quälerei. Jeder einzelne Teil meines Körpers wurde abgeschnitten und
fortgetan, während ich da lag und nicht sterben konnte, denn das Fallenfeld,
das mich im Körper festhielt, war noch aktiv. Mir tat jeder fehlende Körperteil
weh, als wäre er in kochendes Wasser getaucht worden, nur viel schlimmer.
Und irgendwann lag nichts mehr auf
der Liege nur der Schmerz war immer noch da - bis sie endlich den Strahler
ausstellten - und dann war der Schmerz plötzlich weg - und ich konnte wirklich
gehen und hatte keine Schmerzen mehr.
Gleichzeitig aber erinnerte ich
mich wer ich war.
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Ein Text von Kersti Nebelsiek
Autorin: K. Nebelsiek
www.fallwelt.de/welten/frueher/ErsatzteilKersti.htm